Die Glasfassade eines Hochhauses kann ein wesentlicher Faktor für die Überhitzung unserer Städte sein. Andererseits produzieren Hochwasserereignisse wie sintflutartige Monsunregen jährlich Schäden in Milliardenhöhe. Eine Lösung für beide Probleme wurde am 4. Oktober 2022 an der Universität Stuttgart vorgestellt: Eine hydroaktive Fassade, die nicht nur Außenwände und das Gebäudeinnere, sondern auch den Stadtraum kühlt. Die textilen Fassadenelemente mit dem Namen „HydroSKIN“ nehmen dafür bei Regen Wasser auf und geben dieses an heißen Tagen zur Verdunstungskühlung wieder ab.
Das Luftbild vieler Metropolen, aufgenommen mit einer Wärmebildkamera, zeigt viele orange-rote Flecke. Die roten Zonen repräsentieren bebaute Gebiete. Dort sind die Temperaturen deutlich höher als in den „grünen“ Parks. Der Grund dafür: Über natürliche Oberflächen verdunsten rund 60 Prozent des eintreffenden Regenwassers und sorgen so für Abkühlung. Versiegelte Straßen- und Gebäudeoberflächen lassen dagegen nur 10 Prozent Wasserverdunstung zu. Die restlichen 90 Prozent gelangen in die Kanalisation und führen zu einem weiteren weltweiten Problem: verheerende Überschwemmungen durch Starkregen. Steigende Urbanisierung, bauliche Verdichtung und zunehmende Flächenversiegelung verschlimmern – neben den Auswirkungen des Klimawandels – Hitze- und Hochwasserrisiken in unseren Städten.
Eine Ertüchtigung der Kanalisation zur Bändigung der stetig zunehmenden Wassermassen würde einen enormen baulichen Aufwand mit sich bringen. Zudem sei dies in Zeiten knapper Ressourcen keine gute Lösung, meint Prof. Werner Sobek, bis 2020 Leiter des Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart und früherer Sprecher des Sonderforschungsbereichs SFB 1244 "Adaptive Hüllen und Strukturen für die gebaute Umwelt von morgen": „Hydroaktive Elemente dagegen stellen bei minimalem Ressourceneinsatz eine effektive Fassadenlösung zur Neutralisierung des städtischen Hitze-Insel-Effektes dar.“
Hohe Luftzirkulation fördert die Verdunstung
Das Kernelement der HydroSKIN ist ein so genanntes Abstandsgewirke, zwei textile Lagen, die durch Fäden auf Abstand gehalten und dadurch gut durchlüftet werden. Die hohe Luftzirkulation fördert die Verdunstung von Wasser und verstärkt den Kühleffekt der Fassade. Das Gewirke ist an der Außenseite von einer wasserdurchlässigen Textilhülle umgeben, die nahezu alle Regentropfen eindringen lässt und gleichzeitig das Gewirke vor Verunreinigungen schützt. Eine Folie an der Innenseite leitet das Wasser in das untere Profilsystem ab. Von dort kann es, entweder in einem Reservoir gespeichert oder direkt im Gebäude genutzt, den Wasserverbrauch reduzieren. An heißen Tagen wird Wasser in das Fassadenelement zurückgeleitet, verdunstet dort und sorgt so für den natürlichen Kühleffekt. „Dieses Fassadensystem stellt eine artifizielle Retentionsfläche zur Regenwasserrückhaltung und -verdunstung in der Gebäudefassade dar, die durch ihre optischen und haptischen Qualitäten nicht nur unglaublich schön ist, sondern zugleich einen Meilenstein für die Anpassung der gebauten Umwelt an die akuten Herausforderungen unserer Zeit darstellt“, erklärt Christina Eisenbarth, Akademische Mitarbeiterin am ILEK und Erfinderin von HydroSKIN.
Hochhausfassaden haben besonders viel Potenzial
Hochhäuser zeigen besonderes Potenzial zur Anwendung hydroaktiver Fassaden – und das nicht nur aufgrund ihrer großen Fassadenfläche. Zum einen trifft der Regen mit zunehmender Höhe als Schlagregen schräg auf die Fassade, so dass ab etwa 30 Metern Gebäudehöhe mehr Regen über die Fassade aufgenommen werden kann als von einer gleich großen Dachfläche. Zum anderen verstärken die hohen Windgeschwindigkeiten den Verdunstungskühleffekt und es entsteht ein kühler Luftstrom, der abwärts in den Stadtraum zieht.
Erste HydroSKIN-Elemente werden derzeit am weltweit ersten adaptiven Hochhaus auf dem Campus Vaihingen der Universität Stuttgart getestet, dem Flaggschiff des Sonderforschungsbereichs 1244 und ausgewähltes Projekt der Internationalen Bauausstellung (IBA). „Die Ergebnisse sind vielversprechend. Bereits in Laboruntersuchungen konnten wir ca. 10 Grad Temperaturreduktion durch den Effekt der Evaporation nachweisen. Die ersten Messungen am Hochhaus Anfang September weisen auf ein noch deutlich höheres Kühlpotenzial hin“, erklärt Christina Eisenbarth.
„2023 wird eine weitere Etage des adaptiven Hochhauses D1244 mit HydroSKIN-Elementen realisiert werden. Nach und nach soll jedes Geschoss des Gebäudes mit neu entwickelten und innovativen Fassaden ausgestattet werden, die einen Beitrag zu mehr Ressourceneffizienz und Klimaschutz leisten werden“, verkündet ILEK-Leiter Prof. Lucio Blandini, verantwortlicher Planer für das D1244 und stellvertretender Sprecher des SFB 1244.
Der Einsatz der hydroaktiven Fassadenelemente bleibt jedoch nicht auf das Forschungshochhaus beschränkt: Da die HydroSKIN-Elemente sehr leicht sind, können sie an jeder Fassade im Neubau wie auch im Gebäudebestand nachträglich angebracht werden.
Festveranstaltung auf dem Campus Vaihingen
Vorgestellt wurde HydroSKIN am 4. Oktober 2022 im Rahmen einer Festveranstaltung im Beisein des Prorektors Forschung und wissenschaftlicher Nachwuchs der Universität Stuttgart, Prof. Manfred Bischoff, des Gründers des SFB 1244, Prof. Werner Sobek, des Sprechers des SFB 1244 und Leiters des Instituts für Systemdynamik (ISYS), Prof. Oliver Sawodny, des stellvertretenden Sprechers des SFB 1244 und Leiters des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK), Prof. Lucio Blandini, sowie weiteren rund 50 Teilnehmer*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
Kontakt | Christina Eisenbarth, Universität Stuttgart, Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren, Tel.: +49 (0)711 685-66138, E-Mail Dr. Walter Haase, Universität Stuttgart, Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren, Tel.: +49 (0)711 685-68310, E-Mail |
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Publikation: Potentials of hydroactive lightweight façades for urban climate resilience, Christina Eisenbarth, Walter Haase, Lucio Blandini, Werner Sobek, Wiley Online Library, März 2022, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/cend.202200003